Der lange Weg zurück


Sie lief durch die strahlend weiße Landschaft. Ihr Kopf wackelte und schepperte, ein Auge hatte sich aus der Halterung gelöst und sendete unkontrollierte Signale.
Der Blick blieb schleierhaft, denn auch das zweite Auge hatte Schaden genommen. Über allem schien ein Nebel zu hängen, Schlieren oder blendendes Direktlicht.
Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Die letzte klare Erinnerung waren sechs große Säulen, von denen mindestens zwei sie so zugerichtet hatten. Wie Schlangenhälse waren sie vorgeschnellt und ihre Köpfe kamen ihr plötzlich so nah, dass sie sich riesigen Augen gegenüber sah, die sie aus wutverzerrten Gesichtern anstarrten. Die Elektrizität des Angriffs verbrutzelte ihr die Kontakte. Unkontrollierte Blitze durchjagten die Nervenbahnen, versengten ganze Netze und hinterließen ein rauchendes Trümmerfeld in ihrem Schädel und auch in anderen Teilen ihres Körpers. Wo genau und welcher Art die Wunden waren, spürte sie nicht. Sie fühlte sich noch immer betäubt.
Wie lange war sie umhergeirrt, ohne es zu wissen? War sie umhergeirrt? Oder brachten ihre Beine sie geradewegs einem Ziel entgegen?
Obwohl sie so beschädigt war und ihre Sinne halbtot zu sein schienen, funktionierte offenbar alles andere gut genug, um sie dorthin zu bringen, wo sie ...
Wo sie was? Wann? Warum? Mit wem? Wie lange war das alles her? Und was musste als nächstes passieren?
Während ihre Gedanken sich zu ordnen begannen, lief sie weiter, gönnte sich keine Pause. War sie langsam unterwegs? Trotz all ihrer offensichtlichen tiefen Verletzungen hatte sie das Gefühl, sehr schnell unterwegs zu sein. Der Motorikapparat schien demnach keinen Schaden genommen zu haben. Trotz der Schmerzen, die sie allmählich zu spüren begann. Kniegelenke, Füße, Schultern, auch der Hals fühlten sich steif an.
Trug sie den Kopf erhoben? Oder hing er schlaff herab? Nicht einmal das konnte sie sagen. Die Informationen zum Gleichgewicht, die ihr Bewusstsein erreichten, schienen widersprüchlich zu sein. So wie eigentlich alle eingehenden Daten. Nichts passte wirklich zusammen. Selbst die Schmerzen schienen nicht da herzukommen, wo sie verwundet war. War sie denn verwundet?


Die Blitze. Nein, Blicke. Es waren nur Blicke gewesen. Und der Anblick von etwas – schrecklich Nahem. So dicht vor ihr. Dadurch so riesig, so dringlich, so nackt.
War sie seitdem auf der Flucht? Oder verfolgte sie es, was immer es gewesen war? Ein sechsköpfiges Ungeheuer? Oder doch nur Säulen in der Wüste.
Sie fror. Dessen war sie sich tatsächlich sicher. Die Kälte war überall, auf ihrer Haut, unter ihren Füßen, im Herzen, im Bauch und im Kopf. Von der Nasenspitze fiel ein Tropfen in den Schnee zwischen ihren Füßen. Sie war stehengeblieben. Schaute hinab. In das kleine Loch, das der Tropfen hinterlassen hatte, eingeschmolzen in den dichten, weichen Schnee. Der Schnee fühlte sich kalt an unter ihren nackten Sohlen. Kalt, aber nicht hart. Sie bewegte die Zehen, als würden sie durch warmen, goldenen Strandsand gleiten. So war es gewesen, damals, dort, als die Säulen sie angriffen.


Sie war auf dem Weg zu einem Zelt gewesen, in dem sie den Prinzen des Landes vermutete. Als Abgesandte hatte sie einen Auftrag erhalten von ... Wieder eine leere Stelle in der Erinnerung. Sie sollte ihn finden, um einen Friedensvertrag auszuhandeln. War denn Krieg? In ihrem Geist sah sie ein Bild des Prinzen, wie er klein, zart und traurig zwischen bunten Kissen saß und das jungenhafte Gesicht halbherzig hinter einer vorgehaltenen Maske verbarg. Er wirkte nicht wie ein ernstzunehmender Gegner. Und doch war ihr Schlimmes geschehen. Sie zitterte. Eisige Schauer liefen ihren Rücken hinauf und versetzten sie zurück in Alarmbereitschaft. Angst. Vor dem Unbekannten. Vor einer unsichtbaren, ungreifbaren, aber sehr realen Gefahr.


Sie blickte auf. Die Sonne stand schon tief am Himmel, der sich rot zu färben begann. Der Schnee reflektierte glitzernd den Farbton. Sie stand am Ufer und glaubte das Rauschen der gefrorenen Wellen zu hören. Langsam setzte sie einen Fuß auf das gefrorene Wasser, wappnete sich gegen die aufsteigende beißende Kälte, setzte den anderen Fuß auf das Eis und setzte ihren Weg ins Unbekannte fort. Die Sonne verschwand langsam neben ihr, alles färbte sich blau. Sie war nun weit draußen, das Ufer nicht mehr zu sehen.
Zwischen ihre Füße legte sich sanft eine Feder. Ein Schatten streifte ihre Schulter. Schnell wandte sie sich um, drehte sich einmal um sich selbst und erkannte dann im allerletzten Dämmerlicht den Urheber ihrer Empfindung. Vor ihr auf dem Eis stand ein weißer Rabe. Er schien den Schnabel zu öffnen, krächzte, neigte den Kopf und wartete.
Plötzlich bemerkte sie, wie müde sie war. Alles an ihr wurde schwer, alles in ihr zog sie zu Boden, die Knie weich, die Füße fast taub. Mit den Händen fing sie den Sturz ab, um nicht mit dem Kopf auf das Eis zu schlagen. Der Rabe blieb einfach ruhig sitzen. Er war groß. Sah sie an. Die Augen. Wie jene Augen, damals, im Wüstensand, vor dem Zelt.
Hinter dem Zelt.
Trotz des Säulenangriffs war sie weitergegangen, nun blind, nur den Händen folgend und dem Geräusch einer leise flüsternden Stimme. Der Stoff einer Zeltwand. Die Worte eines Jungen, der nicht glauben konnte, was er sah. Versunken in sich selbst und das facettenreiche Bild eines spiegelnden Kristalls. Verwundert ließ er die Maske sinken, blickte auf und sah sie an.
Sie wunderte sich, dass sie ihn so deutlich sah, wo doch ihre Augen erblindet waren. Wärme durchfloss ihren Schädel, ihre Brust – hatte er sie durchstoßen? War sie in die Falle gelaufen und zerfloss nun ihr Leben auf samtenen Kissen?


Sie spürte nichts, als der weiße Rabe ihre Augen ausstach. Sah nur diesen Jungen im Zelt, der sie damals so staunend betrachtete. Der ganz vorsichtig zart eine kleine Hand ausstreckte, um sie zu berühren. Der nicht lächelte, nicht sprach, nur langsam näher heranrückte, ihre Wange sanft berührte, das Köpfchen in ihren Schoß legte, die eigenen Augen schloss und leise murmelnd in den Schlaf glitt.
So saß sie da, hielt seine Hand und betrachtete ihn. Lange. Bis auch sie zu schlafen begann.


Sie erwachte. Der Junge lag noch immer schlafend in ihrem Schoß, zugedeckt mit weißen Rabenfedern. Sie spürte ihr Herz, fühlte das Blut fließen, es tropfte ihr aus den Augen in den Schnee. Auf das Eis. Verschwamm in seinem Haar. Das Zelt war ein Sternenzelt, ihr Blut waren Tränen, die Wüste aus Eis ein verschwommenes, schmelzendes Trugbild.
Auch er schlug die Lider auf und gähnte laut. Dann hob er den Kopf, sah ihr staunend direkt in die Augen, breitete die Flügel aus und flog krächzend zum Horizont.
Sie sah ihm lange nach, weinte vor Sorge und Liebe und Sehnsucht und Glück, bis der Boden unter ihr nachgab. Die harten Formen lösten sich, all die beschädigten Sinne und Glieder. Wirbellos stieß sie die falsche Hülle von sich, sog das Wasser, ihr ureigenes Element, in sich auf, und glitt schwerelos frei durch die wogende See.


© 09/2021 Kerstin Rehberg